Politisches Manifest zum Pride Month
Die Marzahn Pride ist vorbei, aber der Kampf geht weiter!
Die Marzahn Pride ist vorbei, aber der Kampf geht weiter!
Der anhaltende Krieg Russlands gegen die Ukraine, verschärfte Gesetze und politische Hasskampagnen gegen die LGBTIQ*-Community in Russland sowie die queerfeindliche Politik in angrenzenden Ländern machen deutlich: LGBTIQ* Menschen sind auch im Jahr 2024 in Gefahr und brauchen unsere volle Solidarität!
Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die von Krieg, Kolonialismus, Imperialismus, Patriarchat und diktatorischen Regimen betroffen sind. Wir stehen allen LGBTIQ* Menschen bei, die in ihren Herkunftsländern, auf der Flucht oder in vermeintlich sicheren Ländern diskriminiert werden und Gewalt erfahren. Wir fordern für alle ein Leben in Sicherheit, Freiheit und Würde. LGBTIQ* Rechte waren, sind und bleiben Menschenrechte!
Wir verurteilen mit absoluter Vehemenz den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der eine weitere Eskalation in einem seit 2014 stattfindenden Krieges darstellt. Mit der Annexion der Krim und Russlands Angriff auf die östlichen Gebiete der Ukraine leitete Russland den Beginn eines weiteren imperialistischen Krieges ein. Spätestens mit dem Euromaidan im Jahr 2013 wurde deutlich, dass die Ukraine eine westliche Ausrichtung nach Europa verfolgt und damit nach Veränderungen und Fortschritt strebt. Europäische Werte, Demokratie und der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit von Russlands Interessen bestimmten damals die revolutionären Proteste, die um den 130 Menschen das Leben kostete.
Die internationale Gemeinschaft hat die Kriegshandlungen und Annexionen Russlands damals ohne großen Widerstand hingenommen und lediglich mit einigen Wirtschaftssanktionen bestraft. Das Schweigen der westlichen Länder gegenüber den Verbrechen Russlands war, wie wir spätestens jetzt wissen, ein enormer Fehler. Butscha, Mariupol und die Sprengung des Kachowka-Staudamms lassen keinen Zweifel an den ungeheuerlichen Kriegsverbrechen, die von einem Terrorstaat begangen werden und auf die reine Vernichtung der Ukraine, ihrer Infrastruktur, ihres Kulturerbes und sogar der Natur ausgerichtet sind.
Seit dem 24. Februar 2022 sind um die eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, darunter auch Tausende aus der LGBTIQ* Community. LGBTIQ* Geflüchtete sind mehrfach durch die Folgen von Krieg und Flucht betroffen. In den Kriegsgebieten mangelt es an medizinischer Versorgung, sicheren Sheltern und anderen lebenswichtigen Ressourcen. Nicht alle haben die Möglichkeit zu flüchten, wie z.B. Transfrauen, die von den ukrainischen Behörden männlich gelesen werden und ihnen damit, basierend auf der Generalmobilmachung, eine Ausreise verweigern. Die Lebensbedingungen im Krieg sind für Trans*Personen besonders schwierig. So fehlt es nicht selten an wichtigen Medikamenten und entsprechenden Möglichkeiten zur Hormontherapie.
Umso beeindruckender ist, was die LGBTIQ* Community in der Ukraine unter Kriegsbedingungen geleistet hat. Sie hat sich in diversen Organisationen und Initiativen selbst organisiert, Shelter aufgebaut, evakuiert, humanitäre Hilfe geleistet und gleichzeitig die internationale Gemeinschaft zu Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt. Nicht zu vergessen ist natürlich auch der Mut von LGBTIQ* Personen, die sich mit eigener Kriegsbeteiligung gegen Russland verteidigen und sogar eigene LGBTIQ* Bataillons aufgebaut haben. Eins ist nämlich klar: ein Leben in Sicherheit und Freiheit wäre unter russländischer Okkupation für die LGBTIQ* Community ausgeschlossen.
Russland ist nicht mit Diplomatie zu stoppen. Für ein schnelles Kriegsende braucht es von der internationalen Gemeinschaft finanzielle Unterstützung und militärisches Equipment, damit sich die Ukraine verteidigen und Menschenleben retten kann.
Nicht nur für die Ukraine, sondern auch für andere angrenzende Staaten, in denen Russland politischen Einfluss ausüben will bzw. ausübt (siehe Belarus, Georgien, Moldau, Armenien oder Kasachstan), wäre ein militärischer Erfolg Russlands für die Einhaltung der Menschenrechte fatal. Auch um dies zu verhindern, müssen die Verantwortlichen für alle Kriegsverbrechen in der Ukraine vor das internationale Gericht gebracht und zusätzlich eine Aufarbeitung zur kollektiven Verantwortung seitens der russländischen Bevölkerung angestoßen werden.
Mit dem Ende des Krieges blicken wir auch hoffnungsvoll auf eine baldige Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union und sehen darin eine Chance für die Ausweitung der LGBTIQ* Rechte in der Ukraine. Bereits vor einem Jahr zeigte sich der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, offen für die Einführung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und auch in der ukrainischen Gesellschaft ist nach aktuellen Umfragen wie von der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Nash Svit (2022) eine steigende Toleranz und Anerkennung gleicher Rechte für die LGBTIQ* Community zu beobachten. Ob in der Ukraine oder in Deutschland - es braucht auch weiterhin Solidarität und tatkräftige Unterstützung für die ukrainische LGBTIQ* Community; in Form von Spenden an ukrainische Netzwerke, ehrenamtlicher Hilfe für Geflüchtete oder öffentlichkeitswirksamen Aktionen, die den Krieg in der Ukraine nicht in Vergessenheit geraten lassen.
Seit 2020, nach den massivsten pro-demokratischen Protesten in der Geschichte von Belarus, befindet sich das Land in einem Zustand des rechtlichen und politischen Stillstands. Das Ausmaß der politischen Repression hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht und ist bis heute ungebrochen. In den letzten 10 Monaten wurden jeden Tag 10 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Seit Beginn der Proteste in ganz Belarus im August 2020 waren über 45.000 Menschen brutalen Verhaftungen, verschiedenen Formen von Polizeigewalt, Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt. Bis heute sind mehr als 1.500 Menschen als politische Gefangene in Belarus anerkannt worden.
Während des Präsidentschaftswahlkampfs und der Proteste 2020 waren LGBTIQ* Personen ein aktiver Teil der Demokratiebewegung. Aktivist*innen schlossen sich Kampagnen für eine unabhängige Wahlbeobachtung und eine faire Stimmenauszählung an und beteiligten sich an den Wahlkämpfen der alternativen Präsidentschaftskandidat*innen. Darüber hinaus konnte die LGBTIQ* Community in Belarus im Sommer und Herbst 2020 einen eigenen queeren Block innerhalb der großen Sonntagsdemonstrationen in Minsk organisieren, um einen demokratischen Wandel im Land zu unterstützen.
Seit Herbst 2020 sind viele derjenigen, die an den Demonstrationen teilgenommen haben, politischer Verfolgung ausgesetzt. LGBTIQ* Personen wurden sowohl direkt bei den Protesten als auch auf Grundlage erfundener, politisch motivierter Fälle festgenommen. So wurde beispielsweise der Trans-Aktivist Zhenya Velko nach seiner Verhaftung auf unmenschlichste und diskriminierende Weise misshandelt und musste das Land verlassen. Druck auf Familienangehörige, Entlassungen auf der Arbeit und Inhaftierungen führten dazu, dass ein Teil der Gesellschaft sich in die Nachbarländer reloziert hat. Da eine Einreise in die EU aufgrund geschlossener Grenzen nicht möglich war, zogen Aktivist*innen teilweise in die Ukraine.
Ab Juli 2021 kam es zu einer massiven Zwangsliquidierung von Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen in Belarus. Bis zum Ende des Sommers 2022 wurden etwa 1.000 zivilgesellschaftliche Organisationen entweder per Gerichtsbeschluss zwangsliquidiert oder sahen sich gezwungen, sich aufgrund des Drucks der Machtstrukturen selbst aufzulösen. Die Liquidierung von Nichtregierungsorganisationen war und ist in hohem Maße politisch motiviert: Organisationen, die an demokratischen Prozessen im Jahr 2020 teilgenommen oder diese unterstützt haben, sind mit Durchsuchungen, Inspektionen und Verhaftungen von Mitarbeitenden konfrontiert. Zusätzlich kam es auch zu politischen Verhaftungen von Menschenrechtsaktivist*innen, die sich unter anderem für die Rechte von inhaftierten LGBTIQ* Personen eingesetzt haben.
Belarusische LGBTIQ* Aktivist*innen, die 2020-2022 in die Ukraine flüchteten, waren aktiv in die lokalen LGBTIQ* Bewegungen eingebunden. Sie gehörten zu den ersten, die mit der Evakuierung von belarusischen und ukrainischen LGBTIQ* Menschen aus der Ukraine halfen und waren aktiv an Projekten zur Nothilfe beteiligt.
Menschen, die ihre Arbeit in Belarus fortgeführt haben, nahmen im Februar 2022 an Antikriegsaktionen teil. So war beispielsweise die lesbische Künstlerin Vika Grebennikova gezwungen, Belarus zu verlassen, nachdem sie bei den Kundgebungen festgenommen und von den Sicherheitskräften unter Druck gesetzt worden war. Außerdem führte die Gefahr einer Mobilisierung zur Flucht von Personen, die möglicherweise der Wehrpflicht unterlagen. In Minsk und anderen Städten fanden Veranstaltungen zur Unterstützung der Ukraine und zur Sammlung von Spenden für die Betroffenen des russischen Angriffskriegs statt.
Trotz des Zustands der hybriden Besatzung im Rahmen der “Integration zu Russland” und der Schaffung des “Unionstaats”, gibt es in Belarus de facto kein “Gesetz zum Verbot von Propaganda”, aber Homophobie ist ein wichtiges Instrument staatlicher Gewalt und Repression: Es gibt die erniedrigende Praktik der Veröffentlichung von unter Druck aufgenommenen “Reue”-Videos, in denen Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind, vor der Kamera für ihr Engagement in der pro-demokratischen Bewegung “Buße tun”.
Viele homosexuelle Männer* wurden dabei zwangsgeoutet: In diesen Videos müssen sie ihre “Reue” über ihre Homosexualität zum Ausdruck bringen, werden von Sexspielzeug umgeben gezeigt und unter Druck gezwungen, Details aus ihrem Privatleben preiszugeben, was eine eklatante Verletzung der Privatsphäre und einen Affront gegen die Menschenwürde darstellt.
Am 19. Juni 2023 kündigte die belarusische Generalstaatsanwaltschaft Pläne zur Einführung von Verwaltungsstrafen für “Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen, Geschlechtsumwandlung, Pädophilie und Childfree” an. Dies ist ein weiterer Schritt in Richtung “Integration”, d. h. der hybriden Besetzung Belarus durch die Russische Föderation, der die ohnehin schon gefährdeten LGBTIQ* Menschen im Land schwer treffen und neue Gründe für die politische Verfolgung von Aktivist*innen eröffnen wird.
Während Freiräume für die LGBTIQ* Community in Russland schon immer eingeschränkt waren, hat sich die Situation seit Beginn des Angriffskriegs Russland gegen die Ukraine dramatisch verschlechtert. Für die russländische Propaganda verkörpern LGBTIQ* Personen den innenpolitischen Feind. Die gesamte LGBTIQ* Community und alles, was sie repräsentiert, wird als das Symbol für “den Westen” und seine Werte genutzt, die im Kontrast zum “traditionellen”, ultrakonservativen Weltbild der russländischen Politik stehen. Daraus folgt eine Legitimierung für die politische und rechtliche Verfolgung, die zusätzlich auch die Diskirminierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen nach sich zieht. Gewalt an LGBTIQ* Personen ist politisch gewollt und wird durch die tagtägliche Propaganda weiter befeuert.
Nach dem sogenannten “Gesetz gegen LGBT-Propaganda unter Minderjährigen” wurde schon im Jahr 2017 ein deutlicher Anstieg von Hassverbrechen gegen LGBTIQ* Menschen erkennbar. Das “Gesetz über das totale Verbot von LGBT-Propaganda” vom Dezember 2022 lässt von einem neuen Anstieg homophober und transphober Gewalt ausgehen. Durch Zensur, dem faktischen Verbot vieler unabhängiger Medien und dem Gesetz über “ausländische Agenten” ist der Zugang zu Informationen stark eingeschränkt und erschwert die Aufklärung von LGBTIQ* Menschen zu ihren Rechten. Dies ist besonders akut für Menschen, die in Regionen leben, in denen die Gewalt gegen LGBTIQ* Personen am höchsten ist, wie im Nordkaukasus, in Südrussland und Sibirien.
Seit April 2023 droht Trans* Personen in Russland eine neue Gefahr - ein Gesetzesentwurf, der die Transition medizinisch und juristisch vollständig verbieten soll. Wie Menschenrechtsaktivist*innen betonen, bedroht der Gesetzentwurf nicht nur die Möglichkeit für Trans* Personen, ihre Dokumente zu ändern, sondern auch medizinische Unterstützung für die Hormontherapie zu erhalten. Wenn dieser Entwurf angenommen wird, werden Trans* Personen in Russland nicht nur gesellschaftlich marginalisiert, sondern auch direkt in ihrer Gesundheit bedroht, da der Zugang zu medizinischen Leistungen stark eingeschränkt wird. Umfragen der Trans-Initiativgruppe „T-Action“ belegen, dass im Jahr 2022 Trans* Personen in Russland mit einem dramatischen Mangel an Medikamenten für die Hormontherapie konfrontiert waren. Dies führte zu einer ernsthaften Verschlechterung ihres psychischen Zustands. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird diese Situation zur erzwungenen Emigration einer großen Zahl an Trans* Personen führen und die Frage der Unterstützung beim Zugang zu notwendigen Präparaten für die Hormontherapie, einer sicheren Unterkunft, der Integration und psychologischer Hilfe aufwerfen.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat grundlegend das Leben von LGBTIQ* Menschen beeinflusst. Laut einer Umfrage der Menschenrechtsorganisationen „Wychod“ und „Sphera“ gaben mehr als zwei Drittel der befragten LGBTIQ* Personen an, dass sie der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine persönlich betroffen hat und zu einer Zunahme homophober und fremdenfeindlicher Einstellungen in der Russischen Föderation führte. 78 % gaben an, dass sie sich nach dem 24. Februar 2022 als LGBTIQ* Personen in einer verletzlicheren und unsichereren Position fühlen.
LGBTIQ* Organisationen in Russland setzen sich seit Jahren für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie ein. Vielen von ihnen, wie Wychod, T-Action oder das LGBT-network wurden bereits auf die Liste der sogenannten “ausländischen Agenten” gesetzt, wodurch ihre Arbeit offiziell unmöglich und unsichtbar gemacht wird. Trotzdem wird weitergekämpft, sich engagiert, im Kleinen und Großen und auf vielfältigen, kreativen Wegen. Viele LGBTIQ* Aktivist*innen setzen sich nicht nur für die Rechte von LGBTIQ* Personen oder anderer Minderheiten ein, sondern protestieren auch aktiv gegen den Krieg Russlands in der Ukraine und haben sich dabei strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Unter den vielen hunderten politischen Gefangenen befinden sich auch Aktivist*innen aus der LGBTIQ* Community und denjenigen, die ihr nahe stehen, wie der “Feministische Antikriegswiderstand” (FAS). Eine der bekanntesten Fälle ist der von Sascha Skotschilenko, die in Lebensmittelläden Preisetiketten mit Informationen zu den Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine austauschte, wofür sie anschließend verhaftet wurde. Bis zum heutigen Tag sitzt sie in Haft und ihr drohen weiterhin bis zu 10 Jahre in einer Strafkolonie.
Die politische Verfolgung führte dazu, dass viele LGBTIQ* Aktivist*innen Russland verlassen mussten, wodurch die Rechte der LGBTIQ* Community noch unsichtbarer werden. Aus Misstrauen gegenüber den Strafverfolgungsbehörden werden Rechtsverletzungen und Gewalt nur selten der Polizei gemeldet. Der Mehrheit derjenigen, die sich doch an die Polizei wandten, wurde eine Verfahrenseinleitung verweigert. Aktivist*innen und Menschenrechtsorganisationen stehen nun vor der Herausforderung LGBTIQ* Personen, die in Russland bleiben oder diese verlassen haben, mit Informationen, sowie rechtlicher und psychologischer Unterstützung zu versorgen sowie die Öffentlichkeit auch außerhalb Russlands mit ihrer Expertise über Menschenrechtsverletzungen an der LGBTIQ* Community aufzuklären.
Unsere Partner*innen in Russland und Belarus, ob LGBTIQ* Organisationen oder einzelne Aktivist*innen, brauchen unsere Solidarität, ob mit öffentlicher Aufmerksamkeit, lokaler Unterstützung zur Weiterführung ihrer Arbeit oder mit der Ausweitung eines unbürokratischen Aufnahmeprogramms für LGBTIQ* Aktivist*innen, die ihnen eine schnelle Evakuierung ermöglicht.
Auch sehen wir die Notwendigkeit von vereinfachten Migrationsmöglichkeiten für Trans* Personen. Der trans*feindliche Gesetzentwurf in Russland stellt einen beispiellosen Eingriff in die Privatsphäre von Trans* Personen und eine Menschenrechtsverletzung dar. Es wird nicht nur das Recht auf die freie Meinungsäußerung oder der Zugang zu Informationen beschränkt, sondern auch das Menschenrecht auf eine ausreichende medizinische Versorgung.
Grundsätzlich dürfen wir nicht diejenigen vergessen, die zur besonders schutzbedürftigen Gruppe innerhalb der LGBTIQ* Community zählen, wie gleichgeschlechtliche Familien mit minderjährigen Kindern, Trans* und Intersex* Personen sowie Personen mit Behinderungen und LGBTIQ* Personen, die von der Mobilisierung betroffen sind. Auch sie haben das Recht auf ein würdevolles Leben in Sicherheit und Freiheit.
Erst Ende letzten Jahres identifizierte die Bundesregierung im Rahmen ihres Aktionsplans “Queer leben” queere Geflüchtete als besonders schutzbedürftige Gruppe und kündigte an Menschenrechte von LGBTIQ* weltweit stärker in den Fokus zu nehmen. In vielen osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern werden LGBTIQ* Personen immer noch diskriminiert, teils strafrechtlich verfolgt und massiver Gewalt ausgesetzt. Wir verfolgen mit Schrecken die bereits langjährig bestehenden und nun eskalierenden Entwicklungen in Russland gegenüber der LGBTIQ* Community. Ob aus Tschetschenien, wo öffentlicher LGBTIQ* Aktivismus einem Todesurteil gleicht, oder auch aus dem restlichen Russland, in dem mittlerweile jegliche Freiräume zerstört und kein sicheres Leben für LGBTIQ* Personen mehr möglich ist, sind LGBTIQ* Personen auf der Flucht. Sie flüchten meist zunächst in angrenzende Länder, in denen sie ebenfalls eine queerfeindliche Politik und Gesellschaft antreffen.
Auch in den Nachbarstaaten wie Belarus, Georgien, Armenien, Kasachstan, Usbekistan und weitere ist es aufgrund von Homo-, Trans*- und insgesamt Queerfeindlichkeit nicht sicher für die LGBTIQ* Community. In Usbekistan wird beispielsweise Homosexualität mit bis zu drei Jahren Haft strafrechtlich verfolgt und HIV-positive Menschen kriminalisiert.
Auch Georgien ist kein sicheres Land für LGBTIQ* Personen. Mit Einsetzen sind wir alle Zeug*innen des brutalen Angriffs auf die Tbilisi Pride geworden, der von rechtsextremen, ultrakonservativen und russlandnahen Gruppen am 08. Juli 2023 begangen wurde. Bereits im Jahr 2013 kam es zu ähnlichen Ausschreitungen, bei denen Pride-Teilnehmende massiv angegriffen und verletzt wurden. Sicherheitskräfte und staatliche Behörden unternehmen nichts um die Pride Demonstrierenden und insgesamt die LGBTIQ* Community ausreichend zu schützen. Queerfeindlichkeit, Homo- und Transphobie haben eine Kontinuität in Georgien, die politisch gewollt ist und sich auch durch Gesetzesentwürfe ähnlich dem “Propaganda-Gesetz” in Russland auf staatlicher Ebene bemerkbar macht.
Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität und die Gefahr, die daraus für Leben und Freiheit erwächst, gelten in Deutschland als anerkannte Asylgründe. Leider beobachten wir, dass es nur die wenigsten überhaupt nach Europa schaffen und befürchten, dass die aktuelle Richtung der EU-Asylpolitik die Schutzrechte von LGBTIQ* Geflüchteten weiter einschränkt.
Wir mussten am 08. Juni mit Bestürzung feststellen, dass die EU-Innenminister*innen, darunter auch Deutschland, einer der seit Jahrzehnten schwerwiegendsten Asylrechtsverschärfungen zugestimmt haben. Fernab jeglicher unabhängiger Rechtsberatung müssen Schutzsuchende demnach zukünftig ihren Asylantrag direkt an den Außengrenzen der EU stellen und während des Asylverfahrens unter haftähnlichen Bedingungen ausharren. Wir befürchten, dass dabei ihr Zugang zu einem fairen und rechtsstaatlichen Asylverfahren massiv beschränkt wird.
Bis zu 30.000 Menschen sollen in entsprechenden Einrichtungen untergebracht werden. Viele Geflüchtete werden dabei das sogenannte “Grenzverfahren” durchlaufen müssen, bei dem in einem Schnellverfahren innerhalb weniger Wochen eine Entscheidung über das Asylgesuch getroffen wird. Von dieser Regelung sollen aktuell nicht einmal Familien mit Kindern oder andere besonders vulnerable Gruppen wie LGBTIQ* Personen ausgeschlossen werden.
Ob in einem Schnellverfahren eine gründliche Prüfung der Fluchtgründe gewährleistet werden kann, ist mehr als fraglich und birgt die Gefahr, dass LGBTIQ* Geflüchteten ihr Recht auf Asyl verwehrt bleibt. Zudem folgt bei einer Ablehnung eine unmittelbare Abschiebung in vermeintlich “sichere Drittstaaten”, darunter auch Staaten, in denen queere Geflüchtete weiterhin um Diskriminierung und Verfolgung fürchten müssen. Wir fordern für LGBTIQ* Schutzsuchende sichere und schnelle Fluchtwege in queerfreundliche EU-Staaten, in denen sie in Freiheit und unter Wahrung ihrer Schutzrechte leben können! Wir fordern eine solidarische EU-Asylpolitik und schließen uns den Protesten gegen die Asylrechtsverschärfung an!
In Folge von Krieg und Verfolgung sind viele LGBTIQ* Personen aus der Ukraine, Russland und anderen osteuropäischen oder zentralasiatischen Ländern nach Deutschland geflohen. Aus ganz Deutschland erreichen uns täglich Hilfegesuche von LGBTIQ* Geflüchteten und Migrant*innen. Insbesondere die Unterbringungssituation in Erstaufnahmeeinrichtungen gestaltet sich schwierig. Angekommen in Deutschland, erleben LGBTIQ* Geflüchtete immer wieder Diskriminierung, Androhungen und machen schlimmstenfalls Gewalterfahrungen. Die Zugehörigkeit zur LGBTIQ* Community in Kombination mit einer Flucht- oder Migrationsgeschichte birgt das Risiko einer Mehrfachdiskriminierung, die eine gleichwertige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränken kann. Dies wird beispielsweise besonders im Kontext der Wohnungssuche ersichtlich. Die angespannte Lage des Wohnungsmarkts ist speziell für queere Geflüchtete herausfordernd und führt zu einer nicht selten monatelangen psychischen Belastung. Oftmals weisen LGBTIQ* Geflüchtete einen multiplen Unterstützungsbedarf in unterschiedlichen Lebensbereichen auf. Daher sind sie nicht nur auf eine sichere Unterbringung, sondern auch auf bedarfsgerechte Angebote sowie sensibilisierte Fachkräfte angewiesen.
Der Zugang zu einer LGBTIQ* spezifischen Gesundheitsversorgung muss gesichert und darf nicht von vorhandenen Sprachkenntnissen abhängig sein. Viel zu oft werden ärztliche Termine, davon teils sogar lebenswichtige Untersuchungen und Behandlungen, abgesagt, da keine Sprachmittlung vorhanden ist. Auch sollte dabei nicht die psychische Gesundheit vernachlässigt werden, insbesondere bei einer Zielgruppe, die Gewalt- oder Diskriminierungserfahrungen gemacht hat. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung aufgrund von traumatischen Kriegserfahrungen, Verlusten sowie weiterhin die Sorge um die in der Heimat Zurückgebliebenen. Der Zugang zur psychologischen Hilfe oder allgemein zur Sprachmittlung darf langfristig nicht am Vorhandensein ehrenamtlicher Kapazitäten gebunden sein.
Die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen sowie die Situation der LGBTIQ* Rechte lassen vermuten, dass auch zukünftig LGBTIQ* Personen nach Deutschland flüchten werden. Um Unterstützungsbedarfe professionell auffangen zu können, braucht es verstetigte und nachhaltige Hilfs- und Beratungsstrukturen, die sich als niedrigschwellige Anlaufstellen langfristig etablieren können. Dies lässt sich nur mit Beteiligung von queeren Initiativen und Migrant*innenorganisationen realisieren, die sich seit Jahren für die Belange von LGBTIQ* mit Flucht- und Migrationsgeschichte einsetzen sowie die Sichtbarkeit der PostOst-Communities in Deutschland fördern. Gleichzeitig können so entsprechend Strukturen geschaffen werden, welche die russischsprachige LGBTIQ* Community in Deutschland empowern und die Grundlage schaffen für die Weiterführung der Menschenrechtsarbeit von geflohenen Aktivist*innen.