Eine kurze Geschichte der Queer-Referaten
Dieses Material ist im Rahmen des Projekts „Entwicklung studentischer Queer-Bewegungen in Russland “ im Jahr 2021 entstanden.
Dieses Material ist im Rahmen des Projekts „Entwicklung studentischer Queer-Bewegungen in Russland “ im Jahr 2021 entstanden.
An jeder deutschen Universität gibt es eine offizielle Vertretung oder Referat, die sich mit den Interessen queerer Studierender beschäftigen. Solche Referate sind in die allgemeinen Hochschulstrukturen integriert, werden auf allen Ebenen ernst genommen und ihre Existenz verwundert niemanden mehr. Im Jahr 2021 feierten das erste Referat für Schwule an einer deutschen Universität den 40. Geburtstag.
Kontext: Zu dieser Zeit ist in Deutschland der „Paragraph 175“ gültig und findet tatsächliche Anwendung – ein Artikel des Strafgesetzbuches, der sexuelle Beziehungen zwischen Männern verbietet. 1921 werden danach 425 Personen verurteilt. In der UdSSR sind zu diesem Zeitpunkt keine strafrechtlichen Konsequenzen für homosexuelle Verbindungen vorgesehen, da das entsprechende Gesetz nach der Oktoberrevolution abgeschafft worden war. Generell waren in diesen Jahren die sowjetischen Gesetze bezüglich Ehe und Privatleben die weltweit fortschrittlichsten. Darüber hinaus sollte die fünfte Tagung der Weltliga 1931 in Moskau abgehalten werden, was aufgrund der sich aufladenden politischen Situation jedoch nicht stattfand. Und: In Berlin gab es zu dieser Zeit mehr schwule Einrichtungen als heute und die deutsche LGBT-Organisation „Bund für Menschenrecht“ zählte 50.000 Mitglieder – zehnmal mehr als heute der „Lesben- und Schwulenverband in Deutschland“ (LSVD e.V.)
Das stand auf einem der Schilder am Institut für Sexualwissenschaft, das zur selben Zeit in Berlin tätig war. Es war von Prof. Magnus Hirschfeld gegründet worden, der auch die Liga für Sexualreform einberufen hatte. Am Institut wurde zu allen sexualitätsbezogenen Fragen geforscht. Dort behandelten Fachärzt*innen für geschlechtsspezifische Gesundheit, es wurden Operationen, juristische Beratungen und öffentliche Vorträge durchgeführt, sogar Selbsthilfegruppen nach dem Peer-to-Peer-Prinzip (wenn Beratende und Klient*in über die gleiche Diagnose oder Erfahrungen verfügen) angeboten. Außerdem gab es Kostümparties. Das Institut war eine Art Freiheits- und Experimentierzentrum. Magnus Hirschfeld selbst war der einzige Forscher in Europa, der Inter- und Transsexualität untersuchte. Er etablierte den Terminus „Transvestit“. Der Professor war Stammgast der Eldorado-Bar, die er in Frauenkleidung besuchte und dafür den liebevollen Spitznamen „Tante Magnesia“ erhielt.
Kontext: Russland, 15. Januar 1921. Mitarbeiter der Kriminalpolizei verhaften in Petrograd 95 „teilweise in Weibliches gekleidete“ Männer, die auf einer inszenierten „Hochzeit“ feiern. Viele von ihnen gehören dem Militär an. Die abendliche Show war eine Veranstaltung für Travestie-Liebhaber. Die Teilnehmer wurden aufgrund des Verdachts „kontrarevolutionärer Handlungen“ verhaftet, der Fall jedoch eingestellt.
Deutschland, 1933: Hitler führt den Begriff „Gleichschaltung“ ein, den Prozess gesamtgesellschaftlichen Einbezugs in die Ideologie der Nationalsozialisten ohne jeglichen Pluralismus oder Individualität. Unter dem Motto der Gleichschaltung werden alle Organisationen zerstört, welche die Interessen der Zivilgesellschaft vertreten. Darunter auch das Institut für Sexualwissenschaft. Militär und Polizei stürmen das Gebäude, verwüsten es und beschlagnahmen die einzigartige Bibliothek und das Archiv. Diese Bücher, Zeitschriften und Fotos werden zusammen mit den Werken „antideutscher“ Schriftsteller*innen auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz) verbrannt.
Kontext: Russland, 1933. Stalin veranlasst die Einführung der „Strafrechtlichen Verfolgung von Päderastie“. Das entsprechende Gesetz tritt im März 1934 in Kraft und besteht bis zu seiner Abschaffung 1993 durch Jelzin. Der Artikel wurde in der Praxis angewandt, hunderte Verurteilte jährlich wurden in Gefängnisse und Lager geschickt
Diese Entwicklung wirkte sich auch auf die Strukturen deutscher Universitäten aus, die das Recht auf Selbstverwaltung erhielten. So werden ihre Rektor*innen nicht eingesetzt, sondern gewählt, wobei an den Wahlen auch unter anderen Studierendenvertretungen beteiligt sind. Diese haben auch bei vielen anderen Fragen unter dem universitären Dach Mitspracherecht und Einfluss auf Fakultätspolitiken. Es entstehen Referate Studierender, beispielsweise für Frauenrechte (später auch Lesbenrechte).
Kontext: Zugleich bleibt in der Bundesrepublik Deutschland das faschistische Gesetz zum Verbot homosexueller Beziehungen weiterhin in Kraft. Die strafrechtliche Verfolgung Schwuler wird fortgesetzt.
Deutschland, 1981. An der Freien Universität Berlin entsteht das bundesweit erste offizielle schwule Referat. Vorangegangen war ein offener Brief, ein Manifest zur Unsichtbarkeit Homo- und Bisexueller und der Notwendigkeit queerer Agenda in der Wissenschaft. Die Vorkämpfer-Organisation formuliert drei Ziele. Erstes Ziel: Direkte Vertretung der Interessen homosexueller Studierender. Konkret: Schaffung von Treffpunkten, um der Isolation entgegenzuwirken, Zusammenstellung von Adressen LGBTQ*-freundlicher Ärzt*innen, Hilfe bei der Suche nach WGs und Wohnheimen, Organisation von Parties, Information zur Durchführung thematischer Projekte an der Universität. Zweites Ziel: Einfluss auf die Wissenschaftscommunity, um in der Forschung auch Fragen mit Relevanz für queere Menschen zu beleuchten. Um Homophobie entgegenzutreten, planen die Aktivist*innen, Projekte zu schwulen Themen zu initiieren und durchzuführen sowie öffentliche Veranstaltungen zu organisieren – nicht nur innerhalb der eigenen Community, sondern auch für ein breites Publikum. Drittes Ziel. Durchführung politischer und öffentlicher Kampagnen jenseits der Universität. Schwule Studenten fordern die Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung von „Sodomie“, der Berufsverbote, der Unterdrückung am Arbeitsplatz, der Bespitzelung und „rosa Listen“, der Versuche, Homosexualität zu heilen. Dazu beginnen die Referate, mit Medien zusammenzusammenzuarbeiten, um in Zeitungen und Fernsehen Aufklärung zu fördern und Diskriminierung abzubauen.
Kontext: In den 1980er Jahren gilt für Homosexuelle nach wie vor ein Verbot für eine Reihe von Berufen. In erster Linie sind das Lehrer*innen und Psycholog*innen. Bis 1971 werden Studierende bei Bekanntwerden ihrer homosexuellen Kontakte der Universität verwiesen. Übrigens: 2018 besetzt ein offen schwuler Mann, der Mathematikprofessor Günter Ziegler, den Posten des Präsidenten der Freien Universität Berlin. Dies geschieht zum allerersten Mal in der Geschichte Deutschlands.
Dem Beispiel der Studierenden der FU folgen blitzschnell Angehörige anderer Hochschulen. Queer-Vertretungen und -Referate entstehen im ganzen Land, gibt es doch zu diesem Zeitpunkt an vielen Universitäten de facto bereits inoffizielle aktivistische Gruppen. Dabei haben nicht alle von ihnen ihre Arbeit mit Rechtsschutz- oder zivilgesellschaftlicher Tätigkeit begonnen. In Oldenburg beispielsweise hatten sich schwule Studenten traditionell am nudistischen Tag im Unischwimmbad getroffen und protestieren organisiert, als dieser Tag verboten wird. Ein zweites Mal machte die Gruppe ihre Unzufriedenheit öffentlich, als an der Universität die so genannten glory holes verschlossen wurden – sexuell bestimmte Öffnungen in den Zwischenwänden von Männertoiletten.
Kontext: Zu diesem Zeitpunkt war der Boden für das „Tauwetter“ schon bereitet. 1980, kurz vor der Bundestagswahl, führte der Grünen-Kandidat und schwule Aktivist Corny Littmann eine Enthüllungsaktion in Hamburg durch. Im Beisein eines Fotografen und einer Gruppe Mitwissender besuchte er mehrere öffentliche Toiletten, welche von Homosexuellen häufig für Sextreffen genutzt wurden. In einer davon zerschlug er den Spiegel mit einem Hammer. Hinter den Spiegeln verbargen sich Kammern, von denen aus Polizeimitarbeitende Schwule beobachteten und „rosa Listen“ zusammenstellten – das war allgemein bekannt. Die Aktion schlug bombenartig ein, waren doch die „rosa Listen“ ein Überbleibsel des Nationalsozialismus. Das Foto Littmanns mit dem Hammer am zerbrochenen Spiegel ging in die Geschichte ein.
Deutschland. Ein Jahr später, 1982, veranstalten Aktivist*innen queerer Referate deutscher Universitäten ein Treffen, das eine bis heute bestehende Tradition begründet. Sie kommen zusammen, um Erfolge und Misserfolge zu besprechen, sich kennenzulernen, Erfahrungen zu teilen, Kooperationen zu vereinbaren, und einfach eine gute Zeit zu haben. Der Treffpunkt ist die Akademie Waldschlösschen im Gebäude eines ehemaligen Sanatoriums in Niedersachen. Dort befindet sich ein Lernzentrum, welches zu einem bundesweiten Zentrum für Entwicklung und Weiterqualifizierung von Organisationen mit LGBTQ*-Bezug wurde. Nun finden die Treffen der Queer-Referate zweimal jährlich statt, wobei folgende Tradition entstanden ist: Hochschulaktivist*innen kleiden sich so schick wie möglich, schminken sich und machen sich auf hohen Absätzen auf den Weg nach Göttingen, in ein traditionelles deutsches Café, wo steife ältere Damen ihren Nachmittagskaffee einnehmen. Diese Performance dient einerseits dem Freiheitserleben und bildet andererseits eine Hommage an die „Tanten“, wie vor hundert Jahren die ersten Trans-Aktivisten auf den „Bällen“ an Prof. Hirschfelds Institut genannt wurden.
Heute finden sich Queer-Referate an praktisch jeder Universität Deutschlands. Sie sind üblicherweise Teil der studentischen Selbstverwaltung AStA und erhalten von ihr sogar ein kleines Budget, wobei die Aktivist*innen meist ehrenamtlich tätig sind. Dies sind die zentralen Initiativen queerer studentischer Vertretungen heute: · Vielfältige Beratungsangebote · Unterhaltung: Parties, Gesellschaftsspiele etc. · Vorträge, zu denen alle Universitätsangehörigen eingeladen werden · Teilnahme an Demonstrationen, Prides, universitären Veranstaltungen · Kampf für Toiletten und Umkleiden für alle Geschlechter, für das Recht trans Studierender ihren neuen Namen offiziell zu trafen (bei der Ansprache durch Lehrende, bei der Beantragung der universitären E-Mail-Adresse etc.)
Das Material wurde von Wanja Kilber und Xenia Maximowa für das Projekt #qib21 erstellt. Das Projektziel ist der Erfahrungsaustausch zu zwischen Queer-Gruppen an deutschen und russländischen Universitäten (Hashtag # qib21). Das Projekt wurde mit Unterstützung vom Auswärtigen Amt durchgeführt.